Italianità – man kennt es aus den alten Filmen – spielt sich im Freien ab. Die ganze Nachbarschaft bevölkert Innenhof und Laubengänge und kommuniziert unüberhörbar quer über den Platz. Die Case di ringhiera in Bellinzona sind dem piemontesisch-lombardischen Wohnstil nachempfunden. Hinter Fassaden zur Strasse hin wird der Innenhof zur lebendigen Bühne.
Sobald die graue Energie berücksichtigt wird, schneidet der Holzbau massiv besser ab. Yves Schihin, Architekt ETH SIA, Partner Oxid Architektur GmbH
Wie die meisten institutionellen Investoren legt Helsana bei ihren Bauprojekten den Fokus auf Wirtschaftlichkeit und Nachhaltigkeit. Beide Schlüsselkriterien sprachen bei einer alten Siedlung im Stadtgürtel zwischen Bellinzona und Giubiasco gegen eine Sanierung. Die energetischen, haustechnischen, ästhetischen und typologischen Bedingungen lagen weit ausserhalb heutiger Massstäbe. In professioneller Konsequenz führen derartige Ausgangslagen meistens zu einem Wettbewerb. 2017 schrieb Helsana einen Studienauftrag aus, den Oxid Architektur (vormals Burkhalter Sumi Architekten) mit kalkulatorischer Unterstützung von Renggli gewinnen konnte. Und einmal mehr hat sich gezeigt: Holz rechnet sich. Das trifft in besonderem Masse zu, wenn sämtliche Lebenszykluskosten und die graue Energie in die ökonomische und ökologische Bilanz einfliessen.
Mit den zwei Längsbauten «Case di ringhiera» aus Holz und dem Wohnturm «Torretta» aus Stahl und Beton gelang es Oxid Architektur auch, die Parzelle deutlich besser auszunutzen. Weitere Rechenvorteile ergaben sich aus dem einheitlichen Achsenabstand der Baueinheiten und damit aus der seriellen Fertigung repetitiver Elemente. Und für die Jury war natürlich auch die verkürzte Bauzeit und damit früher einsetzende Mieteinnahmen ein überzeugendes Argument. Darüber nahm sie mit Freude zur Kenntnis, dass das Kostenbewusstsein der architektonischen Kreativität nicht im Wege stand.
In der Ideenfindung hat sich Architekt Yves Schihin von Filmen des italienischen Neorealismo inspirieren lassen. Dort sind Gebäudetypen mit Galerien um einen Innenhof herum allgegenwärtig, wie etwa in Viscontis «La Bellissima». Die Laubengänge der Case di ringhiera dienen auch hier nicht nur der Erschliessung, sondern sie sind als überbreite Veranda offen für zufällige oder gewollte Begegnungen und für den freundschaftlich-nachbarschaftlichen Austausch. Auch wenn der gewählte Bautypus historisch gesehen durchaus gängig ist im Tessin, im Piemont und in der Lombardei, so ist in Bellinzona diese Abfolge von öffentlichen, halb privaten und privaten Räumen als städtische Typologie ein Novum.
Die Vermarktungspartnerin Livit äusserte Bedenken, dass potenzielle Mieter im Tessin das Private über das Gemeinschaftliche stellen und sich mit diesem Konzept unwohl fühlen könnten. Darum haben die Architekten für genügend Privatsphäre und Rückzugsmöglichkeit gesorgt. Die Schlafzimmer kamen auf die hofabgewandte Seite zu liegen, ebenso die privaten Balkone bzw. Terrassen im Erdgeschoss. Zudem zeigt sich, dass gerade das Private vom Gemeinschaftlichen profitiert: Dank der auswärtigen Erschliessung über die Laubengänge und kluger Grundrisse kommen die Wohnungen gewissermassen ohne interne Verkehrsflächen aus. Dadurch wurden auf kompakter Fläche grosszügige und doch bezahlbare Wohnungen möglich. Als gemeinschaftlicher Mehrwert darf auch der Multifunktionsraum im Erdgeschoss des Turmgebäudes Torretta gelten. Er steht als Mietraum für den Bedarfsfall zur Verfügung, bequem buchbar über eine Mobile-App, bereitgestellt von Livit. Sogar Hochbeete lassen sich über diese App mieten, wenn denn der eigene Balkon-/Verandagarten in Töpfen zu wenig Ernte abwirft.
Der Geist des Nachbarschaftlichen schwebte schon von Beginn weg über der konzeptionellen Ausrichtung der Case di ringhiera. Der gemeinschaftliche Hof, der grosszügige Kinderspielplatz, die Gemeinschaftsgärten, der gedeckte Holzpavillon und der Gemeinschaftsraum waren bereits im Wettbewerbsprojekt prägende Merkmale. Dass dabei Holz die tragende Rolle spielen sollte, davon wollte die Bauherrin Helsana aber zuerst durch Kostenanalysen überzeugt werden. Alles sprach dafür, dass umlaufende Veranden mit der Behaglichkeit des Baumaterials Holz die architektonische Identität vermittelten. Nichts war gegen eine silbrig-grau vorverwitterte Fassade an den Aussenseiten einzuwenden. Nichts missfiel an der Maxime, die Klimarelevanz und «Enkeltauglichkeit» beim Bauen im Auge zu behalten. Ausser allenfalls ungebührliche Mehrkosten.
Dass die Holzbauweise auch kostenseitig der Massivbauweise das Wasser reichen konnte, davon liess sich Helsana gerne überzeugen: «Holzbauten sind optisch sehr schön, nachhaltig und lebendiger als ein herkömmlicher Massivbau. Wir möchten für zukünftige Bauten wenn immer möglich in Nachhaltigkeit investieren », bekennt Pascal Aerni, Projektleiter von Helsana. Also hätte einzig die fehlende Nachfrage noch einen Strich durch die Rechnung machen können. Und auch da hat sich gezeigt: Der gemeinschaftliche Ansatz stösst auf grosses Interesse. Auf einen belebten und heiteren Sommer freuen sich schon alle.
Details zum Bauprojekt
Bauherrschaft & Investorin | Helsana Versicherungen AG |
Architektur | Oxid Architektur GmbH (vormals Burkhalter Sumi Architekten GmbH) |
Engineering (Statik/Bausystem), Projektmanagement & Holzbau | Renggli AG |
Baustandard | MuKEn |
Baujahre | 2019-2020 |
Nutzung | 68 Mietwohnungen |
Konstruktion | Holzsystembau: zwei Mehrfamilienhäuser Massivbau: ein Mehrfamilienhaus |
Fassade | Holzbau: Fichte, vorvergraut Massivbau: verputzte Fassade |
Award | Prix Lignum 2021: Anerkennung Region Zentrum «Bau der Woche» der Architektenplattform swiss-architects.com (Februar 2022) |
Ihr nächster Schritt
Wollen Sie mehr über unser Leistungsspektrum als Holzbauer für Planer und Architekten erfahren? Dann bestellen Sie jetzt unsere kostenlose Dokumentation:
Wollen Sie mehr über unser Leistungsspektrum als General-/Totalunternehmen für Bauherrschaften erfahren? Dann bestellen Sie jetzt unsere kostenlose Dokumentation:
Über den Autor
Markus Gabriel ist Inhaber und Creative Director bei der Agentur Angelink. Er schreibt seit Jahren Texte für das Renggli-Kundenmagazin «Faktor Raum» und den Fachblog.
Kommentare (0)